Erneut werfen wir einen Blick auf die besten Independent-Filme des vergangenen Jahres – oder zumindest die fünf, die bei den Independent Spirit Awards für den besten Film nominiert wurden, nämlich Marriage Story, The Farewell, Uncut Gems (Der schwarze Diamant), A Hidden Life (Ein verborgenes Leben) und Clemency.
Erinnern wir uns zurück an die letzten Film Independent Spirit Awards: Keiner der fünf nominierten Filme war auch bei den Oscars mit im Rennen, es gewann If Beale Street Could Talk von Barry Jenkins. Für das Jahr 2019 gibt es immerhin eine Überschneidung zwischen Spirit Awards und Oscars: Noah Baumbachs Marriage Story wäre der Oscar vermutlich lieber, die besseren Chancen hat der Film aber doch einen Tag vorher, am 8. Februar, bei den Independent Spirit Awards im weißen Zelt am Strand von Santa Monica.
Zwei Jahre in Folge gibt es nun sehr geringe Überschneidungen zwischen Oscars und Spirit Awards, aber ganz ehrlich? Vielleicht ist es besser so. Wie langweilig ist eine Award-Season, in der immer und immer wieder die selben Gewinner*innen auf Bühnen rund um Hollywood gebeten werden? Wir erleben es derzeit wieder in den Schauspielkategorien: Bisher haben Laura Dern, Brad Pitt, René Zellweger und Joaquin Phoenix bereits Golden Globe, BAFTA, SAG Award und Critics’ Choice Award in ihren entsprechenden Kategorien entgegen genommen, und es wäre eine große Überraschung, wenn die entsprechenden vier Oscars andere Abnehmer*innen fänden.
Die Filmlandschaft des vergangenen Jahres lässt sich meiner Meinung nach nicht auf fünf, sechs oder sieben Filme oder Performances reduzieren, aber genau das passiert wieder und wieder in der Award-Season. Genau deshalb ist es erfrischend zu wissen, dass die Independent Spirit Awards – unter anderem aufgrund von Budgetbeschränkungen für Filmkandidaten – ein ganz anderes Feld abdecken und die Oscars nicht kopieren.
Wenn es um die besten Filme des Jahres geht, ist es deshalb keine schlechte Idee, neben den Oscars die Independent Spirit Awards im Auge zu behalten. Hier stehen Filme im Mittelpunkt, von denen viele (gerade in Europa) nicht gehört haben, die aber oftmals keineswegs schlechter sind als die “Oscar”-Filme, die dank der Rückendeckung großer Studios und entsprechender Marketingbudgets einen Tag später um den ganz großen Filmpreis kämpfen.
Bei den Film Independent Spirit Awards sind nominiert:
Marriage Story – 6.5/7
Bei den Film Independent Spirit Awards nominiert in den Kategorien: Bester Film, Bestes Drehbuch
Außerdem bereits ausgezeichnet mit dem Robert Altman Award (Bestes Ensemble)
Charlie ist erfolgreicher Theaterregisseur in New York, Nicole sein Star. Nicole ist Charlie zuliebe nach New York gezogen, und ihr Wunsch, mit ihrer Familie zumindest zeitweise in Kalifornien zu leben, blieb unerfüllt. Nach ihrer Trennung erhält Nicole ein Rollenangebot in ihrer Heimat Los Angeles und zieht mit Henry zu ihrer Mutter nach L.A., Charlie aber sieht die Zukunft seiner Familie in New York. Obwohl das Ex-Paar befreundet bleiben will und Henrys Wohl an erster Stelle stehen soll, wird der Streit um die örtliche Trennung zu einem Kampf um Henry.
Ein authentisches Portrait des letzten Kapitels einer Marriage Story sollte beide Seiten berücksichtigen und ausbalancieren. Diese Aufgabe bewältigt der Film von Noah Baumbach mit Bravour, insbesondere dank eines hervorragenden Drehbuchs und großartiger darstellerischer Leistungen von Adam Driver und Scarlett Johansson in den Hauptrollen.
Wir haben den Luxus, beide Seiten der Geschichte zu erleben. Wir können Informationen zusammenführen, wissen um Wahrheiten, die Nicole und Charlie – trotz ihrer generellen Offenheit zueinander – verborgen bleiben. Wir wissen um Situationen und Umstände, wissen, was in diesen gesagt oder nicht gesagt wurde. Wir könnten verurteilen, tun dies in bestimmten Situationen auch, aber Baumbach gelingt ein Balanceakt, an dessen Ende man beide Seiten verstehen kann, man den beidseitigen Schmerz um den Verlust spürt. Das Ende von Marriage Story schlägt einen Home Run, verknüpft die Geschehnisse vom Anfang des Films mit dem Ende und setzt einen perfekten, tränenreichen Schlusspunkt.
Dies sind Ausschnitte aus unserem ausführlichen Review des Films aus Dezember 2019.
The Farewell – 7/7
Bei den Film Independent Spirit Awards nominiert in den Kategorien: Bester Film, Beste Nebendarstellerin (Zhao Shuzhen)
Billi (Awkwafina) ist als Kind mit ihren Eltern von China nach Amerika ausgewandert. Inzwischen ist sie 30 und möchte Autorin werden. Zu ihrer Großmutter in China, Nai Nai (Zhao Shuzhen) genannt, hat sie aber weiterhin ein enges Verhältnis, die beiden telefonieren häufig. Es trifft Billi hart, als sie von ihren Eltern erfährt, dass Nai Nai unter Lungenkrebs im Endstadium leidet. Um sich von ihr verabschieden zu können, reist die ganze Familie aus allen Ecken der Erde nach China – allerdings unter dem Vorwand der Hochzeit von Billis Cousin, denn Nai Nai selbst hat von ihrer Diagnose keinen blassen Schimmer.
Die Prämisse von Lulu Wangs erstem Feature The Farewell hört sich an den Haaren herbeigezogen an, wäre da nicht die Tatsache, dass diese “Geschichte einer Lüge” aus Wangs eigenem Leben stammt. The Farewell basiert zwar auf einer Lüge, ist aber vielmehr eine Geschichte über Familienliebe, Heimat, Verbundenheit und Kultur, die mit einem gigantischen Herz ausgestattet ein Dauergrinsen auf jedes Gesicht zaubert. Awkwafina ist herrlich als Billi, die “so schrecklich amerikanisch” ihre Emotionen und Gefühle schlecht herunterschlucken kann und aus Sicht ihrer Familie besser nicht zu Nai Nais Absch… zu Cousin Hao Haos Hochzeit gekommen wäre. Besonders das Verhältnis zwischen Awkwafina und Nai Nai ist gegeben der Umstände natürlich bittersüß. Nai Nai wird gespielt von Zhao Shuzhen, für die The Farewell ihr Filmdebüt darstellt – und was für eines! Sie ist nicht nur die Anführerin der Familie, sondern auch der Star des Films, sobald China erreicht ist.
Trotz der großen Lüge im Zentrum hat Lulu Wang mit The Farewell einen der ehrlichsten, wärmsten und kulturell interessantesten Filme des Jahres 2019 erschaffen – auf einem winzigen Budget, das The Farewell an den Kinokassen mehr als versechsfachen konnte.
A Hidden Life (Ein verborgenes Leben) – 4/7
Bei den Film Independent Spirit Awards nominiert in der Kategorie: Bester Film
Basierend auf einer wahren Geschichte: Franz Jägerstätter (August Diehl) ist Bauer in der kleinen Gemeinde St. Radegund in Österreich. Gemeinsam mit seiner Frau Fani (Valerie Pachner) hat er mehrere Töchter, die in der Idylle der Berge und der Natur aufwachsen. Noch recht früh im zweiten Weltkrieg müssen auch die Bauern ein Training mit Waffen ableisten, um im Fall der Fälle eingezogen und das Vaterland verteidigen zu können. Franz trägt den Krieg nicht mit und sucht bei der Kirche Beistand und Hilfe. Der Einzugsbescheid kommt, und als Franz sich weigert, Hitler die Treue zu schwören, ändert sich für ihn und seine Familie alles.
Terrence Malicks A Hidden Life ist ein epischer Film: Neben der langen Laufzeit von 174 Minuten sind hierfür insbesondere die Bilder verantwortlich, die Jörg Widmer mit der Kamera einfängt. Es sind die schönsten Alpenpanoramen, ein Motiv taucht immer wieder auf: das Feld von Franz im Vordergrund, dahinter der kleine Kirchturm von St. Radegung, im Hintergrund die Berge wie Zacken einer Krone. Man kann sich daran nicht sattsehen. Der Nebel über den Bäumen, die Blumen auf der Wiese, die Arbeit auf dem Hof… Selbst tragischste Geschehnisse werden aus spannenden Perspektiven eingefangen.
Trotz der Schönheit der Bilder verdirbt mir Malicks Filmschnitt leider beinahe den Film: Malick zerreißt seine Szenen und Dialoge förmlich. Immer wieder entsteht das Gefühl, dass etwas fehlt. Er fügt Interaktionsmuster zusammen, die den Kern der Szene treffen sollen, aber er reißt das Publikum damit aus den Gesprächen. Gerade bei den angebotenen Bildern hätte man sich einen weniger prominenten Schnitt gewünscht. Ein emotional-bedrückender dritter Akt rettet den Film schließlich um Haaresbreite und endet einmal mehr mit der Frage: Wie hätte man selbst gehandelt?
Clemency – 5/7
Bei den Film Independent Spirit Awards nominiert in den Kategorien: Bester Film, Bestes Drehbuch, Beste Hauptdarstellerin (Alfre Woodard)
Gefängnisdirektorin Bernadine Williams (Alfre Woodard), ist es, die den Befehl zur Hinrichtung ihrer Gefangenen umsetzen muss. Lange Zeit konnte sie sich emotional distanzieren und funktionierte, aber ein Unfall bei einer Vollstreckung und der Fall um Anthony Woods (Aldis Hodge) wühlen sie psychisch auf. Wie hoch ist der Preis, den sie für ihren Job zahlen musste?
Clemency, das Gnadengesuch, kann im Fall der Verurteilung zur Todesstrafe noch bis kurz vor Vollzug beantwortet werden. Die Hoffnung auf Gnade mag bis zuletzt die treibende Kraft in einem zum Tode verurteilten Organismus sein. Es ist Bernadines Job, die Hoffnung auf Gnade zu nehmen. Sie gibt die finale Anweisung, mit der Hinrichtung zu beginnen, steht im Raum, wenn die giftige Substanz durch den Plastikschlauch bis in den Körper des Verurteilten fließt. Der Film Clemency von Chinonye Chukwu ist das Porträt einer Frau, deren Arbeit sie mit der Zeit mehr und mehr zu einem Stein gemacht hat. Jegliche Emotion schmettert an Bernadine ab, bis die Fassade unter dem psychischen Gewicht zusammenbricht. Alfre Woodard ist unfraglich der Grund, um diesen Film zu sehen. Ihre darstellerische Leistung ist eine der besten des vergangenen Jahres und es ist nicht unmöglich, dass sie bei den Spirit Awards einen Überraschungssieg gegen Oscarkandidatin René Zellweger landet.
Der Film an sich ist schlicht inszeniert und verliert zu keinem Zeitpunkt den Fokus. Einige Sequenzen sind schwer zu ertragen, und als Europäer fragt man sich unweigerlich, wie es die Praxis der Todesstrafe ins 21. Jahrhundert schaffen konnte. Clemencys Erbe ist ein Lichtstrahl durch die Finsternis auf diejenigen, die diese unmenschlichen Strafen ausführen müssen.
Uncut Gems (Der schwarze Diamant) – 6/7
Bei den Film Independent Spirit Awards nominiert in den Kategorien: Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch, Bester Hauptdarsteller (Adam Sandler), Bester Filmschnitt
Im Zentrum des Chaos steht Howard Ratner (Adam Sandler), Inhaber eines Juweliergeschäfts in New Yorks Diamond District. Howard ist ein Mensch, der zu jeder Zeit im Schlamassel steckt, und leider zumeist selbstverschuldet. Er hat einen Schuldenberg angehäuft, den er mit der Versteigerung eines besonders seltenen, wertvollen schwarzen Opals aus Äthiopien begleichen möchte. Neben einem Promi, der Gefallen an dem Stein findet, jongliert Howard Sportwetten, seine Liebschaft mit Mitarbeiterin Julia (Julia Fox), die bröckelnde Beziehung mit Noch-Ehefrau Dinah (Idina Menzel) und seine jüdische Familie. Manches Kartenhaus steht länger, als man es für möglich hält.
Uncut Gems ist ein stressiger Film, stressiger noch als Good Time (2017), der vorige Film der Safdie-Brothers. Joshua und Benjamin Safdie führen in Uncut Gems das fünfte Mal gemeinsam Regie. Schon die ersten Szenen überfordern unsere Sinne, alles geht durcheinander. Zu viel Input! Aber genau das ist Howards Alltag, und die Safdies lassen uns für zwei Stunden Teil dieser völlig verrückten, sich schrecklich authentisch anfühlenden Welt werden. Nach einer guten Viertelstunde hat man den Takt des Films aufgenommen und rast mit Howard von einem Unglück ins nächste. Uncut Gems fängt uns ein und lässt uns mitschwitzen. Dieser Film ist wirklich ein Unfall, von dem man die Augen nicht abwenden kann.
Verantwortlich für das viszerale Filmerlebnis ist neben der Vision der Safdies insbesondere die Performance von Adam Sandler, die ich – ich bin ganz ehrlich – ihm nicht mehr zugetraut hätte. Er ist so unglaublich gut in diesem Film, dass ich ihm eine Oscarnominierung von Herzen gegönnt hätte. Auch Julia Fox sollten wir im Auge behalten.
Hast Du von Clemency gehört? Hast du The Farewell gesehen? Lass es mich gerne unter diesem Artikel oder auf Twitter (@_Simon_Luke_) wissen! Übrigens: Uncut Gems und Marriage Story sind auf Netflix verfügbar.
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