Simon schaut “Die dunkelste Stunde” (Darkest Hour; 2017)

Die dunkelste Stunde fühlt sich an wie der erste Teil eines überdurchschnittlichen Fernsehzweiteilers mit hohen Produktionswerten. Gary Oldman ist ein hervorragender Winston Churchill, daran besteht kein Zweifel. Der Film um ihn herum hat jedoch seine Längen und Probleme. Die dunkelste Stunde ist kein Lincoln (2012).

Simons Highlights

  • Gary Oldman als Winston Churchill
  • Winston Churchill fährt London Underground

Worum es geht

Es ist Anfang 1940, der Zweite Weltkrieg tobt in Europa. Es sieht nicht gut aus für die Alliierten, was zu einer Regierungskrise in Großbritannien führt. Der konservative Premierminister Neville Chamberlain (Ronald Pickup) tritt zurück und Winston Churchill (Gary Oldman) wird sein Nachfolger. Churchill hat früh vor Hitler und Deutschlands aggressiver Expansionspolitik gewarnt. Als ausgesprochener Gegner Hitlers hält er nichts von Friedensgesprächen und steht deshalb mit vielen seiner Parteigenossen im Konflikt. Die Herausforderungen wachsen von Tag zu Tag. Kann Churchill die britische Politik auf seinen Kurs einschwören?

Simons Kritik

Filmbiografien sind ein sehr beliebtes Genre in Hollywood, insbesondere sogenannte Biopics über Politikerinnen und Politiker mischen bei den Oscars alljährlich oben mit. In Jackie (2016) verkörperte Natalie Portman Präsidentengattin Jaqueline “Jackie” Kennedy. Für den Film traf Regisseur Pablo Larraín unkonventionelle Entscheidungen, was Jackie zwar künstlerisch interessant, aber auch etwas unzugänglich macht. Ein paar Jahre zuvor beschäftigte sich Steven Spielberg mit Lincoln (2012) und schuf ein unterschätztes Meisterwerk. Daniel Day-Lewis konnte für seine Darstellung des Präsidenten Abraham Lincoln seinen dritten Oscar als bester Hauptdarsteller gewinnen, ein Novum. Nur ein Jahr zuvor gewann Meryl Streep für ein Politikerinnenporträt, nämlich für Die Eiserne Lady (2011), ein ansonsten jedoch leider wenig spannender Film.

Die Lücke des Politiker-Biopics füllt in diesem Jahr Die dunkelste Stunde mit insgesamt sechs Oscar-Nominierungen. Gemeinsam mit oben genannten Filmen hat er, dass er von einer zweifellos hervorragenden Darstellung des Protagonisten getragen wird.

Gary Oldman als Winston Churchill ist das Herzstück des Films, das Die dunkelste Stunde lebendig hält. Der Film schreckt zunächst nicht davor zurück, Churchill zu entmystifizieren und seine charakterlichen und sozialen Schwächen zu beleuchten. Zu Beginn stellt man automatisch in Frage, wie in jener heiklen Zeit ein solcher Mann in eine solch hohe Position gewählt werden konnte! Im Laufe des Films wird Churchill (auf Anweisung seiner Frau) freundlicher – und mit jedem politischen Manöver gebrechlicher. Knickt er ein? Kann er dem Druck standhalten? Oldman meistert jede Szene mit Bravour, die eher leisen, privaten wie auch die lauten auf der Polit-Bühne. Oldman trägt den Film auf seinen hängenden Schultern, barfuß im rosafarbenen Morgenmantel mit der Zigarre im Mundwinkel.

Apropos Zigarre: Churchill trinkt und raucht in dem Film so exzessiv, dass einem vom Zusehen schlecht wird! Die Produktionswerte (Kulissen, Kostüme) sind insgesamt hoch. Oldmans hervorragendes Churchill-Make-up ist gesondert hervorzuheben und sollte den Oscar gewinnen. Es wäre mehr als verdient.

Eine meiner Lieblingsszenen findet in der London Underground statt. Churchill beschließt, das britische Volk anzuhören, und steigt in die Tube. Oldman spielt jede Sekunde aus und bannt sein Publikum an die Leinwand. Der weitestgehende Verzicht auf Musik unterstreicht die ungewöhnliche Alltagerfahrung der britischen Bürgerinnen und Bürger in ihrer Underground. Man kann der Szene zwar ihre Länge vorwerfen, für mich war sie dennoch ein willkommener Exot im Film.

Leider ist der Film um Churchill herum eher eine eiserne Lady und weniger ein Sklavenbefreier. Den Rest des Casts hängt Oldman ab, was hauptsächlich an schwach geschriebenen Rollen liegt. An manchen Stellen vermisst man klare Motivationen für Entscheidungen. Churchills politische Gegner sind eindimensional. Die Szenen mit Lily James als Elizabeth Layton helfen dem Film selten. Sie sollen Churchill menschlicher machen und uns die Perspektive einer “Normalsterblichen” bieten. Laytons Einführung in die Geschichte ist jedoch für mich nicht gelungen, zudem hat sie wenig bis keine eigene Persönlichkeit und dient hauptsächlich als Tränendrüse.

Auch Ben Mendelsohn hatte mit seiner Rolle als König George VI eine schwere Aufgabe. Colin Firth konnte selbige Figur in einem ganzen Film beleuchten (und auch er gewann für The King’s Speech, 2010, einen Oscar). Mendelsohns König George VI hat insgesamt wenige Szenen, und diese wirken platt und dramaturgisch erzwungen, insbesondere im dritten Akt.

Eines meiner größten Probleme des Films besteht darin, dass es nicht gelingt, einen kohärenten Spannungsbogen bis zur großen Entscheidung am Ende aufzubauen und durchzuhalten. Nebenhandlungen, beispielsweise die Evakuierung der britischen Truppen aus Dünkirchen, lenken zwischenzeitlich viel Aufmerksamkeit auf sich und werden dann stiefmütterlich links liegen gelassen. Wenn wir nicht bereits ein paar Monate zuvor einen ganzen Film über die Evakuierung Dünkirchens gesehen hätten (Christopher Nolans Dunkirk, 2017), wäre die Art und Weise, auf die der Handlungsstrang in Die dunkelste Stunde beendet wurde, wohl noch viel unbefriedigender. Es gelingt den Filmemachern nicht, die eigene Geschichte spannend genug zu inszenieren, um solche Ablenkung zu unterbinden, beziehungsweise das Interesse schnellstmöglich zur Haupthandlung zurückzuleiten. Das mindert die emotionale Schlagkraft des Finales.

Lose Enden gibt es reichlich, weshalb sich Die dunkelste Stunde wie der erste Teil eines Zweiteilers anfühlt. Der Film führt mir vor Augen, wie perfekt Steven Spielbergs Lincoln ist, der einen Spannungsbogen aufbaut und hält, vielschichtige Nebenfiguren installiert, nie vom Kurs abkommt und rund (wenn auch herzzerreißend) endet.

Dunkirk und Die dunkelste Stunde bieten sich als Double Feature an, wobei man zunächst Die dunkelste Stunde schauen sollte. Wenn man sich hauptsächlich für Churchills Geschichte oder Oldmans Interpretation der Figur interessiert, dann kann man über viele Probleme des Films vermutlich hinwegsehen, aber eben nicht, wenn man den Film als einen der besten Filme des vergangenen Jahres verkaufen möchte.

Der Film beleuchtet ein wichtiges Kapitel europäischer Geschichte und es schadet sicher nicht, die Die dunkelste Stunde anzuschauen. Das muss aber nicht unbedingt im Kino sein. Für die Zwischenzeit, während man auf die Free-TV-Premiere oder die Veröffentlichung auf einem Streaming-Portal wartet, empfehle ich Steven Spielbergs Lincoln.

4 von 7 Falken

Simon

Redakteur Moviefalcon.de, Film-, Kino-, Oscarenthusiast! Wenn nicht gerade unterwegs in einer weit entfernten Galaxis, dann sicherlich mit Mad Max auf der Fury Road oder zu Besuch im Grand Budapest Hotel.

2 Gedanken zu „Simon schaut “Die dunkelste Stunde” (Darkest Hour; 2017)“

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