Simon schaut “Loving Vincent” (2017)

Das Leben und der Tod Vincent van Goghs in Ölgemälden: Loving Vincent ist aus künstlerisch-technischer Sicht ein ganz besonderer Film. Die Geschichte ist spannend und düster. Gebannt und fasziniert haben mich dennoch vorrangig die Bilder. Film- und Kunstfans sollten den inzwischen Oscar-nominierten Loving Vincent nicht verpassen.

Simons Highlights

  • Einarbeitung vieler bekannter Gemälde van Goghs
  • Stilwechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart
  • Vincent wäscht seine Hände

Worum es geht

Armand Roulin hielt nicht viel von dem Maler Vincent van Gogh. Damit war Armand nicht alleine. Vincent galt als komischer Kauz, war ein Außenseiter der Gesellschaft mit psychischen Problemen, der sich während seines Besuchs einer Nervenheilanstalt in Auvers-sur-Oise das Leben nahm. Armands Vater, Postmeister Joseph, erteilt seinem Sohn nun den Auftrag, einen Brief van Goghs an dessen Bruder Theo zu überbringen, den Joseph nach vielen Versuchen noch immer nicht zustellen konnte. Widerwillig macht sich Armand auf den Weg nach Paris, wo er erfährt, dass auch Theo verstorben ist. Je mehr Armand über Vincents Leben und die Umstände seines Todes erfährt, desto mehr will er wissen. Er sucht in Auvers-sur-Oise nach Antworten.

Simons Kritik

Unter den Animationsfilmen ist Loving Vincent (2017) ebenso ein Sonderling wie es Vincent van Gogh im echten Leben war. Loving Vincent besteht ausschließlich aus Ölgemälden und ist damit vermutlich der erste komplett in Öl gemalte Spielfilm. Aus künstlerisch-technischer Sicht ist das ohne Zweifel eine Leistung, die es zu ehren gilt, und seit dieser Woche ist Loving Vincent ein Oscar-nominierter Animationsfilm.

Regie führten Dorota Kobiela und Hugh Welchman. Kobiela ist selbst Künstlerin und erdachte zunächst einen Kurzfilm. An dem polnisch-britischen Projekt waren insgesamt 125 Malerinnen und Maler beteiligt, die angeblich 65000 Gemälde für den über 90 Minuten langen Spielfilm produzierten. Die Szenen wurden zunächst mit echten Darstellerinnen und Darstellern gefilmt. Das Filmmaterial diente anschließend als Referenz und wurde über- oder nachgemalt. Die handelnden Figuren sind Gemälden van Goghs entlehnt, weshalb die Filmemacher auf eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Portraits und den Darstellerinnen und Darstellern angewiesen waren. Douglas Booth wurde als Armand gecastet, Chris O’Dowd als Joseph, Jerome Flynn als Doktor Gachet, Saoirse Ronan als Marguerite Gachet und Robert Gulaczyk als Vincent van Gogh.

Es dauert ein paar Minuten, bis man sich in die Geschichte und den eigenwilligen visuellen Stil des Films eingefühlt hat. Ich war zunächst so von den sich bewegenden Farbstrichen auf der Leinwand fasziniert, dass ich einen Moment länger brauchte, um zu verstehen, worum es in dem Film überhaupt geht und aus wessen Perspektive wir auf die Ereignisse blicken. Man gewöhnt sich aber mit der Zeit an die Optik. Besonders begeistert haben mich die vielen Rückverweise auf Originalgemälde van Goghs. Auch Menschen, die ansonsten wenig mit Kunst am Hut haben, werden das eine oder andere weltbekannte Motiv erkennen. Die Bilder stehen nicht im Vordergrund, sondern werden geschickt eingewoben und erhalten (oder sind selbst) so die große Bühne.

Van Goghs Leben und Tod bieten sich an, um daraus eine solide Kriminalgeschichte zu machen. Die Handlung war stellenweise spannender, als ich erwartet hatte. Insgesamt ist die Geschichte aber sehr dialoglastig. Sie wird in Armands Gegenwart erzählt. Diese Sequenzen sind vollständig an van Goghs Stil angelehnt. Wenn sich Figuren zurückerinnern, dann ändert sich dieser Stil: Die Bilder sind nun schwarz-weiß und wirken stellenweise realistischer als van Goghs bunter, grober Pinselstrich. Die Rückblenden haben hervorragend funktioniert, waren oft bedrückend-depressiv. An einer Stelle wäscht Vincent seine Hände in Wasser. Die Einstellung ist berauschend, visuell einmalig und ließ mich kurz mit offenem Mund Richtung Kinoleinwand starren.

Vincent selbst taucht insgesamt selten auf, was ihn noch mysteriöser macht, als ihn der Film sowieso schon mit aller Kraft darzustellen versucht. Ist er die Hauptfigur in seinem Film, oder ist es Armand? Letztgenannter entwickelt im Laufe der Geschichte Sympathie für Vincent. Er dient aber mehr als  Mittel zum Zweck: Aus seiner Perspektive machen wir uns ein Bild des großen Malers. Zu Armand selbst habe ich keine Verbindung aufgebaut.

Insgesamt ist der Film unter der Oberfläche eine spannende Studie über subjektive Personenwahrnehmung. Die Geschichten über van Gogh, die Armand während seiner Reise erzählt werden, unterscheiden sich. Manche haben durchaus Positives über van Gogh zu berichten, andere ausschließlich Negatives. Loving Vincent ruft uns dazu auf, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen oder mitzudenken, bevor wir sie verurteilen. Die Situation, in der sich ein Mensch befindet, bestimmt seine Handlungen genauso mit wie seine Persönlichkeit.

Loving Vincent ist aus künstlerischer und technischer Sicht ein besonderer Animationsfilm mit einer soliden Geschichte über einen der größten Maler der Vergangenheit, der aber gleichzeitig viele Fragen unbeantwortet lässt. Wie ein Portrait bringen die Filmemacher eine subjektive Interpretation von van Goghs Seele, Leben und Tod auf viele, viele große Kinoleinwände.

6 von 7 Falken

Simon

Redakteur Moviefalcon.de, Film-, Kino-, Oscarenthusiast! Wenn nicht gerade unterwegs in einer weit entfernten Galaxis, dann sicherlich mit Mad Max auf der Fury Road oder zu Besuch im Grand Budapest Hotel.

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