Wenn am 15. März die Oscarnominierungen bekanntgegeben werden, dann endet die erste Phase des Oscarrennens in einem der wohl seltsamsten Filmjahre der Filmgeschichte. Am 15. April beginnt dann die Wahl der Preisträger*innen, bevor am 25. April die Oscars schließlich verliehen werden – auch wenn die Zeremonie sicherlich ganz anders aussehen wird als in den vergangenen Jahren.
Was nicht anders ist: Trotz all der Schwierigkeiten, die die Filmbranche im Pandemiejahr hart getroffen haben, gibt es genug Filme, die unsere Aufmerksamkeit und Hollywoods Auszeichnungen mehr als verdient haben. In den vergangenen Wochen hat sich eine Gruppe Filme herauskristallisiert, die um den ganz großen Preis kämpfen werden, um den “Oscar für den besten Film”, der zuletzt im Februar 2020 an den herausragenden südkoreanischen Film Parasite verliehen wurde – eines der wenigen Highlights des vergangenen Jahres, wenn wir ehrlich sind.
Im Gegensatz zu einigen der letzten Jahre, 2018 zum Beispiel, ist diese Gruppe aussichtsreicher Kandidaten zum jetzigen Zeitpunkt noch erfreulich groß, denn zwölf Filme scheinen noch im Rennen um eine Nominierung zu sein, wenn man sich die bisherigen Vorboten (Bester Film – Drama bei den Golden Globes, Bestes Ensemble bei den SAG Awards, Bester Film bei den Critics’ Choice Awards) und die Wettquoten bei Gold Derby anschaut. Das Problem: Seit 2012 können nur bis zu zehn Filme in die Königskategorie Einzug halten. Bis zu zehn? Die genaue Zusammensetzung ist das Ergebnis eines komplizierten Rechenspiels. In der Realität werden seit 2012 nur acht oder neun Filme tatsächlich nominiert, im letzten Jahr waren es neun. Demnach werden von den zwölf Filmen wohl mindestens drei ausscheiden, aber welche? Auch das ist in diesem Jahr ungewöhnlich offen. Wirklich sicher sind wenige.
Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick:
Film | Bester Film - Drama bei den Golden Globes | Bester Film bei den Critics' Choice Awards | Bestes Ensemble bei den SAG Awards | Sonstiges |
---|---|---|---|---|
Da 5 Bloods | - | X | X | |
Judas and the Black Messiah | - | - | - | Premiere erst Anfang Februar 2021: entweder zu spät oder genau passend |
Ma Rainey's Blue Bottom | - | X | X | |
Mank | X | X | - | |
Minari | - | X | X | läuft bei den Globes als fremdsprachiger Film, was Minari in der Kategorie Bester Film ausschließt |
Neues aus der Welt | - | X | - | |
Nomadland | X (Sieger) | X (Sieger) | - | kein Film mit klassischem Ensemble: SAG-Nominierung war nicht zu erwarten |
One Night in Miami | - | X | X | |
Promising Young Woman | X | X | - | |
Sound of Metal | - | X | - | |
The Father | X | - | - | bei den BAFTAs ist ein Push für den britischen Film The Father zu erwarten |
The Trial of the Chicago 7 | X | X | X |
Wenn zwei Filme ganz sicher dabei sind, dann sind es Aaron Sorkins The Trial of the Chicago 7 und Chloé Zhaos Nomadland. Die zwei Filme könnten dabei nicht unterschiedlicher sein: The Trial of the Chicago 7, ein Gerichtsdrama um zu Unrecht angeklagte Demonstranten Ende der 60er Jahre, ist ein Netflix-Film mit großem Ensemble und ausschweifenden Dialogen. Der Film spricht nach den vergangenen vier politisch turbulenten Jahren sicherlich vor allem den liberalen Amerikaner*innen in Hollywood aus der Seele. Aufgrund des starken Ensembles und des Drehbuchs von Sorkin dürfte er vor allem aus dem mit Abstand größten Zweig der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, der Gruppe der Schauspieler*innen, und den Drehbuchautor*innen sowie den Produzent*innen viele wichtige Stimmen sammeln. Der sogenannte Netflix-Bias – eine Benachteiligung von Streaming-Filmen durch eher konservative Mitglieder der Academy – dürfte im Jahr 2020, in dem Streamingservices einen großen Anteil daran hatten, uns überhaupt weltweit mit Filmen zu versorgen, weniger stark ins Gewicht fallen.
Nomadland ist weder ein Ensemblefilm noch einer, der auf ein dialogstarkes Drehbuch baut. Stattdessen ist der Film ein intimer Autoren- und Independentfilm der Regisseurin Chloé Zhao. Als Kritikerliebling der Saison und Golden Globe-Sieger wird der Film in allen Zweigen seine Unterstützer*innen finden, sicherlich aber vor allem unter den Regisseur*innen, Schauspieler*innen und Kameraleuten. Mit Searchlight Pictures wird er von einem erfahrenen Awards-Studio vertrieben (drei best Picture-Sieger im vergangenen Jahrzehnt: 12 Years a Slave, 2013; Birdman, 2014; The Shape of Water, 2017), das sicherlich deutlich stärker auf eine klassische Veröffentlichungsstrategie setzt – so gut das eben im Jahr 2020 geht. Eine Gemeinsamkeit zu Sorkins Film gibt es dann aber doch: Im Zentrum erzählt auch Nomadland eine amerikanische Geschichte, ein Trend, der sich insgesamt zeigt.
So auch in Minari, eine Geschichte über den Amerikanischen Traum einer koreanischen Immigrantenfamilie in den USA. Der Film von Regisseur Lee Isaac Chung mit Steven Yeun (Sorry to Bother You und Burning, beide 2018) in der Hauptrolle bedient ebenso wie Nomadland die Independent-Liebhaber. Studio A24 konnte mit Moonlight (2016) überraschend den Oscar gewinnen, seitdem hat das Studio seine Filme aber nicht mehr platzieren können. Mit Minari scheint sich das nun wieder zu ändern, denn die Screen Actors Guild hat dem Film den Rücken gestärkt. Außerdem konnte der Film zehn Critics’ Choice Awards-Nominierungen einheimsen – einige allerdings in Kategorien, die es so nicht bei den Oscars gibt (Bester Jungdarsteller, Bestes Ensemble). Mit möglichen Nominierungen für das Drehbuch, die Filmmusik und die Regie sollte es für Minari auch in der großen Kategorie reichen. Allerdings wird in dem Film so wenig Englisch gesprochen, dass die Golden Globes ihn als fremdsprachigen Film behandeln, und mit Parasite hat gerade vergangenes Jahr ein koreanischsprachiger Film gewonnen. Unberechtigterweise könnte das Minari doch noch ein Bein stellen.
Ein weiterer Netflixkandidat ist das neue Werk von David Fincher: Mank. Der Schwarzweißfilm über die Entstehung des Drehbuchs des besten Films aller Zeiten, Orson Welles Citizen Kane (1941), ist ein Film für Hollywoodinsider. Vor der Veröffentlichung wurde er sehr hoch gehandelt, seitdem hat sich das Bild aber etwas gedreht. Mank bedient eine sehr enge Nische, hat im Mainstreampublikum wenige Freunde gefunden, und selbst die Kritiken waren nur lauwarm. Dazu kommt, dass die Academy David Fincher bisher nicht viel Zuneigung gezeigt hat: Finchers Meisterwerk The Social Network (2010) verlor Beste Regie und Bester Film halbwegs überraschend gegen The King’s Speech, für Finchers Zodiac (2007) gab es keine einzige Nominierung, für Gone Girl (2014) nur eine einzige. Allerdings wird Mank in diesem Jahr von zwei Dingen stark profitieren: Erstens haben die “Craftspeople”, also die Kostümdesigner*-und Szenenbildner*innen, auch die Kamera- und Soundleute, in diesem Jahr sehr wenige Pferde im Rennen: Mank ist ein technisch herausragender Film und bedient viele dieser Gruppen (ein Mank-Sieg für das Szenenbild gilt als so gut wie sicher). Zweitens ist Mank ein Film über Hollywood und könnte damit den Spot von Once Upon a Time… in Hollywood (2019) oder La La Land (2016) einnehmen. Die Academy liebt Geschichten über die Filmindustrie, für Finchers Film sollte es also reichen. Trotz potentiell vieler Nominierungen wird Mank am Ende aber nicht viele Oscars einfahren.
Es bleiben nur vier bis sechs Plätze für acht Filme. Drei davon basieren auf Theaterstücken, nämlich Ma Rainey’s Black Bottom, One Night in Miami und The Father. In Ma Rainey’s Black Bottom geht es um eine erfolgreiche schwarze Blues-Musikerin (Viola Davis) und ihre Band, die in den zwanziger Jahren eine Platte aufnehmen. One Night in Miami stellt die fiktiven Gespräche zwischen den Ikonen Malcolm X, Muhammed Ali, Sam Cooke und Jim Brown im Verlaufe einer Nacht nach, in denen es um ihre Verantwortung als erfolgreiche Schwarze für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung geht. The Father zeigt die Demenzerkrankung eines Mannes, der bei seiner Tochter einzieht (Anthony Hopkins und Olivia Colman).
Es ist schwer vorstellbar, dass für alle drei Filme Platz ist. Mit vier Nominierungen haben sich die Golden Globes hinter The Father gestellt, und Ähnliches ist bei den BAFTAs zu erwarten, von denen der britische Film sicherlich ebenfalls Rückenwind erhält. Ganz anders sieht das aber die Screen Actors Guild: Für das beste Ensemble wurden hier Ma Rainey’s Black Bottom und One Night in Miami nominiert, die auch in den Top 10 der Critics’ Choice auftauchen, nicht aber The Father. Während The Father und Ma Rainey’s jeweils mindestens zwei Nominierungen für ihre Haupt- und Nebendarsteller*innen sicher zu haben scheinen, wird One Night wohl nur Leslie Odom Jr. in der Kategorie Bester Nebendarsteller unterbringen. Dafür ist die in Hollywood sehr beliebte Regina King aber im Gespräch als beste Regisseurin für One Night, unter anderem sogar nominiert bei den Golden Globes, und One Night ist von diesen dreien am ehesten ein Publikumsfilm. Ma Rainey’s wird Unterstützung von Kostüm und Make-up erhalten, die anderen zwei Filme wohl nicht. Außerdem basiert der Film auf einem Theaterstück von August Wilson, genauso wie Fences (2016), der ebenfalls eine Nominierung erkämpfen konnte. Zwischen den drei Filmen bleibt es spannend. Derzeit scheinen Ma Rainey’s und One Night noch etwas bessere Karten zu haben.
Zwei Filme, die sich epischer anfühlen als viele der anderen Kandidaten, sind News of the World von Paul Greengrass und Spike Lees Da 5 Bloods. News of the World konnte zwar bisher nur eine Nominierung bei den Critics’ Choice Awards für sich verbuchen, spricht als Western aber tendenziell ältere Wähler*innen an und ist einer der wenigen Filme im Rennen, der durch seine opulente Ausstattung hervorsticht. Eine Nominierung als Bester Film ist also durchaus möglich, vergleichbar mit dem Fall von Le Mans 66 (Ford v Ferrari; 2019). Schwieriger ist die Einschätzung von Da 5 Bloods: Netflix scheint auf andere Pferde zu setzen, The Trial of the Chicago 7 zum Beispiel. Da 5 Bloods wurde von den Globes komplett ausgeschlossen, aber die Nominierung für das beste Ensemble durch die SAG lässt hoffen.
Zwei weitere Independentfilme sind noch im Rennen, nämlich Promising Young Woman und Sound of Metal. Promising Young Woman von Emerald Fennell mit Carey Mulligan ist eine Art Rachethriller mit #MeToo-Bezug, der auf dem Sundance-Filmfestival 2020 Premiere feierte und bereits jetzt auf eine überraschend starke Award-Season zurückblicken kann. Insbesondere die Nominierungen für die Regisseurin bei den Golden Globes ließ aufhorchen. In Sound of Metal spielt Riz Ahmed einen Drummer, der sein Gehör verliert und sich mit seinem veränderten Leben auseinandersetzen muss. Der Film scheint mit seinem innovativen Sounddesign auch um den Sound-Oscar mitkämpfen und Nebendarsteller Paul Raci hat noch Außenseiterchancen auf eine Nominierung. Von daher ist auch für Sound of Metal eine Nominierung für den besten Film nicht ausgeschlossen, die Chancen stehen zum jetzigen Zeitpunkt aber sicherlich schlechter als für Promising Young Woman.
Zuletzt bleibt noch ein bisheriger Außenseiter der Saison, nämlich Judas and the Black Messiah. Das lag aber vor allem daran, dass Judas erst Anfang Februar seine Premiere feierte und nun so langsam ins Gespräch kommt. Der hervorragende Film könnte entweder genau zum richtigen Zeitpunkt oder etwas zu spät das Award-Rennen begonnen haben, aber Rückenwind aus den Nominierungen in anderen Preisverleihungen erhielt bisher nur Nebendarsteller Daniel Kaluuya. Trotz der hervorragenden Kritiken – Judas ist sicher einer der besten Filme aus dieser Saison – sind die Chancen schwer einzuschätzen.
Fazit: Wir bringen die Kandidaten in eine Reihenfolge!
Zum jetzigen Zeitpunkt, also nach den Golden Globes, aber vor den BAFTA-Nominierungen, vermuten wir folgende Reihung:
- Nomadland
- The Trial of the Chicago 7
- Minari
- Mank
- One Night in Miami
- News of the World
- Promising Young Woman
- Ma Rainey’s Black Bottom
- The Father
- Judas and the Black Messiah
- Da 5 Bloods
- Sound of Metal
In ein paar Tagen wissen wir mehr!