Per Zufall geriet ich an das biographische Familiendrama Schloss aus Glas mit Brie Larson und Woody Harrelson. Der Film beleuchtet insbesondere das Verhältnis zwischen Tochter Jeannette Walls und ihrem Vater Rex. Leider reißt der Film die dramatische Vorarbeit der ersten neunzig Minuten im letzten Viertel durch ein überstürztes Ende und eine Veränderung der Stimmung brutal ein, sodass ich beim Verlassen des Kinos unsicher war, wofür der Film eigentlich steht.
Simons Highlights
- Ella Anderson als junge Jeannette Walls
- die Schwimmbadszene, an die ich mich noch lange erinnern werde
Worum es geht
Jeannette Walls schreibt Kolumnen für eine Zeitung in New York und lebt gemeinsam mit ihrem im Finanzsektor arbeitenden Verlobten in einer Designerwohnung. Zufällig beobachtet Jeannette ihre Eltern dabei, wie diese auf der Straße im Müll herumwühlen. Sie erinnert sich an ihre Kindheit.
Jeannette ist das zweitälteste von insgesamt vier Kindern der Familie Walls. Vater Rex ist Alkoholiker, Mutter Rose Mary exzentrische Künstlerin. Gemeinsam fristen sie ein Nomadendasein und ziehen von Ort zu Ort, sobald sie zu viel Aufmerksamkeit erregen. Um den Kindern und sich selbst die eigene Armut nicht einzugestehen, plant Rex ein Schloss aus Glas.
Simons Kritik
Schloss aus Glas ist allen Familien gewidmet, die einen Weg gefunden haben, sich trotz ihrer Narben zu lieben – Narben, die aus innerfamiliären Konflikten stammen. Der Film basiert auf der Autobiographie von Jeannette Walls, die im Jahr 2005 ihre Memoiren unter gleichem Namen veröffentlichte. Die Kinder der Familie Walls haben so einiges mitmachen müssen. Die eigene Familie hat wohl bei fast jedem einen Sonderstatus, vor allem den eigenen Eltern wird vermutlich leichter vergeben als jedem anderen. Aber muss man dem eigenen Blut alles verzeihen? Kann man?
Jeannette ist inzwischen erwachsen, möchte heiraten, hat jedoch Sorge vor der Reaktion ihrer Eltern. Unter deren alternativem Lebensstil hat sie als Kind gelitten. In Rückblenden erzählt Schloss aus Glas von Jeannettes Kindheit. Wir erleben Familie Walls in ihrer ganz eigenen, ambivalenten Welt. Für jeden Moment der Liebe legt Vater Rex einen Moment des Schmerzes nach. Dem Publikum wird das innige Verhältnis zwischen Vater und Tochter vermittelt, das immer und immer wieder auf die Probe gestellt wird, insbesondere durch den Alkoholismus von Rex, seine Sturheit und – sagen wir – alternative Erziehungskonzepte.
Der Cast wird angeführt von Oscarpreisträgerin Brie Larson (Room, 2015) als Jeannette Walls und den Oscarnominierten Naomie Watts (21 Grams, 2003, und The Impossible, 2012) und Woody Harrelson (The People vs. Larry Flynt, 1996, und The Messenger, 2009) als Elternpaar Walls. Harrelson lernt man schnell zu hassen, seine und Watts Darstellungen des Elternpaares sind ansprechend. Von Brie Larson als Jeannette im Erwachsenenalter hätte ich mir persönlich mehr erhofft. Ihre Charakterisierung der Hauptfigur ist mir zu inkonsistent. Insbesondere am Ende des Films vollzieht sie eine sehr starke, leider nicht glaubhaft vermittelte Veränderung. Viel spannender als Larson empfand ich Ella Andersons Performance als junge Jeannette Walls. Anderson ist für mich der Star des Films. Ihr gelingt es ohne Probleme, das Publikum an sich zu binden, uns mitleiden und mitdenken zu lassen, zum Beispiel in der gelungenen, grausamen Schwimmbadszene. Es gelingt Regisseur Destin Daniel Cretton jedoch nicht, auf dieser starken Leistung aufzubauen.
Ella Anderson harmoniert wunderbar mit Harrelson als Vater und ihren drei Geschwistern. Die Familiendynamik in den Rückblenden macht den Film spannend. Hier funktioniert der Film am besten, fühlt sich am echtesten an. Leider weiß man jedoch von Anfang an, dass es den Kindern gelingt, aus ihrer schweren Kindheit zu flüchten. Hätte man den Film chronologisch erzählt, wäre die Handlung vermutlich spannender gewesen. So hat der Film leider seine Längen. Die Handlung außerhalb der Rückblenden war unausgeglichen, und richtungsweisende Entscheidungen waren nicht gut genug inszeniert, um glaubhaft vermittelt zu werden.
Vom Ende des Films bin ich besonders enttäuscht. Regie und Drehbuch gelingt es nicht, die Stimmung der ersten neunzig Minuten des Films durchzuhalten. Es wird leicht und seicht, auf einmal geht alles ganz schnell. In den letzten zwanzig Minuten hat Schloss aus Glas eine bessere Bewertung verspielt.
Jeannettes Vater Rex hat seine Kinder hungern lassen, um seine Alkoholsucht zu stillen. Er hat Jeannette bestohlen, sie fast ertränkt, wollte die Flucht seiner Kinder in eine bessere Zukunft verhindern. Dass am Ende des Films die gebildete, eigenständige Jeannette am Sterbebett ihres Vaters sitzt und mit einem “Ach, Papa!” abwinkt, als dieser zugibt, er hätte viel zu bereuen, hat mich verstört. Noch weniger zur dramatischen Handlung, zu den Erfahrungen der Kinder Walls, passt das Zitat von Mutter Rose Mary beim Thanksgiving-Essen nach Ableben ihres Mannes. Sie sagt, es sei mit ihm immerhin nie langweilig geworden. Darauf wird angestoßen.
Dass Jeannette ihren Vater trotz allem liebt, ihn respektiert und am Ende des Films trifft, all das verstehe ich. Die Inszenierung Crettons spielt das Leid der Kinder Walls in diesen letzten Szenen jedoch ungeschickt und würdelos herunter.
Das Material hätte mit anderer Inszenierung viel Potential, vielleicht versucht sich ja in ein paar Jahren jemand anderes an der wichtigen, spannenden Geschichte von Jeannette Walls und ihrer Familie. Ich freue mich auf die nächsten Projekte mit Ella Anderson.