Moonlight und La La Land – zwei Gewinner einer epischen Oscarnacht

Während der letzten Minuten wurde die 89. Oscarverleihung auf den Kopf gestellt. Der Staub hat sich noch nicht vollständig gelegt, aber es ist inzwischen ruhiger geworden. Zeit, um das Geschehene einzuordnen. Ich behaupte: Etwas besseres als die epische Verwechslung der Umschläge hätte Moonlight und La La Land nicht passieren können. Was unter anderen Umständen oder mit anderen Hauptakteuren zu einer Schlammschlacht hätte ausarten können, wurde zu einem Beispiel für Freundlichkeit und gegenseitigen Respekt.

Diese Oscarnacht wird man so schnell nicht vergessen. Die Hollywoodlegenden Faye Dunaway und Warren Beatty verkünden nach anfänglichem Zögern den großen Favoriten La La Land als Gewinner des wichtigsten Filmpreises überhaupt. Team La La Land stürmt auf die Bühne. Zunächst hält Produzent Jordan Horowitz eine Dankesrede, bevor sein Kollege Marc Platt übernimmt. Im Hintergrund wird es unruhig. Ein Stagemanager überprüft die Umschläge. Die Verwirrung erreicht ihren Höhepunkt, als Fred Berger, der dritte Produzent, mit dem Oscar in der Hand seine Rede mit den Worten “we lost, by the way…” abschließt. Auf einmal geht alles ganz schnell. Moderator Jimmy Kimmel taucht auf der Bühne auf, Warren Beatty hält einen neuen Umschlag in der Hand, und La La Land Produzent Horowitz verkündet, dass Moonlight den Oscar für den besten Film gewonnen hätte. Letzte Zweifel werden ausgeräumt, als er die Karte in die Luft hält, die von einem besonders fähigen Kameramann direkt eingefangen wird. Die ganze Welt liest: Moonlight hat tatsächlich gewonnen.

In diesem Artikel soll es nicht darum gehen, wie es zu dieser völlig verrückten Situation kommen konnte, trotzdem hier die Kurzfassung: Beatty und Dunaway wurde ein falscher Umschlag in die Hand gedrückt, nämlich der für die vorher bereits von Leonardo DiCaprio präsentierte Kategorie “Beste Hauptdarstellerin”. Bei den Oscars gibt es zwei Umschläge jeder Kategorie, jeweils einen an den Bühnenaufgängen rechts und links. Die zwei Unglücksraben Beatty und Dunaway haben die Bühne offensichtlich nicht von der gleichen Seite wie zuvor Leonardo DiCaprio betreten, welcher zuvor Emma Stone ihren ersten Oscar (und einen Umschlag der Kategorie “Beste Hauptdarstellerin”) überreichte. Der Mitarbeiter von PricewaterhouseCoopers (PwC), der für das Aushändigen der richtigen Umschläge am betroffenen Bühnenaufgang zuständig war, hat offenbar nicht aufgepasst und den Umschlag der bereits präsentierten Kategorie weitergegeben. Dass so etwas nicht bereits häufiger vorgekommen ist, finde ich persönlich beeindruckend. Am Ende sind wir alle bloß Menschen, und jeder mögliche menschliche Fehler wird bekanntermaßen irgendwann passieren. Beatty war sichtlich verwirrt, und letzten Endes hat Dunaway den Namen des Films vorgelesen, der auf der Karte stand.

In diesem Jahr trafen viele Zufälle zusammen, die das Ereignis so spektakulär machten. Es passierte ausgerechnet in einem Jahr, in dem der Preis der besten Hauptdarstellerin an den großen Favoriten auf den Oscar für den besten Film ging. Hätte zuvor zum Beispiel Isabelle Huppert anstatt Emma Stone gewonnen, wäre der Fehler direkt aufgefallen, denn ihr Film Elle war nicht als bester Film nominiert.

Vielleicht hatte auch der der Faktor, dass alle von einem Sieg La La Lands ausgegangen sind, einen Anteil daran, dass es deutlich über zwei Minuten gedauert hat, bis der Fehler aufgeklärt wurde. Das Musical von dem wunderbaren Damien Chazelle hat den Rekord der meisten Oscar-Nominierungen (14) eingestellt, sieben Golden Globes (ebenfalls Rekord) und die wichtigsten Preise bei DGA, PGA und BAFTA gewonnen. Ein Sieg des Kritikerlieblings Moonlight galt zwar als wahrscheinlicher als ein Sieg eines der anderen sieben Mitkonkurrenten, dennoch setzten die allermeisten Experten auf La La Land.

Die Verwechslung war natürlich unangenehm für alle Betroffenen, von Faye Dunaway und Warren Beatty über Team La La Land und Jimmy Kimmel bis zu Team Moonlight. Die Macher hinter Moonlight hatten eine ganz andere Erfahrung als die eines klassischen Oscargewinns, und ihre Dankesreden fielen im allgemeinen Gewusel auch kürzer und weniger eloquent aus als sie es wohl im Normalfall gewesen wären. Warum könnte diese verrückte Nacht nun dennoch beiden Filmen auf lange Sicht helfen?

Ein Blick zurück: Im Laufe der Award-Season wuchsen die Erwartungen an La La Land ins unermessliche. Spätestens seit Bekanntgabe der Oscar-Nominierungen Ende Januar mehrten sich die Stimmen, die dem charmanten Musical entweder den Erfolg nicht gönnten oder sich öffentlich fragten, ob der Hype gerechtfertigt sei. Ist der Film wirklich gut genug, sind 14 Oscar-Nominierungen angemessen? Auch die YouTube-Community spiegelte diese Entwicklung bis zu einem Punkt, an dem viele den Film entweder liebten oder hassten. Es gab wenig Raum dazwischen. Der Erfolg La La Lands führte also zu einem Backlash, der dem bunten Musical ein Beinchen gestellt haben könnte. Das ist der Fluch der Award-Season. La La Land fehlte lange Zeit die ernste Konkurrenz um den Titel bester Film. Zu viel Aufmerksamkeit richtete sich auf das leidenschaftliche Musical über Träumer in L.A., zu wenig auf den Rest des Feldes.

Dass – und vor allem wie – La La Land nun den großen Oscar verloren hat, könnte dem Film auf lange Sicht helfen. Es war sicher keine schöne Situation für Team La La Land, doch beklagt haben sie sich nicht. Horowitz betonte an Ort und Stelle, er wolle den Oscar persönlich an “seine Freunde von Moonlight” weitergeben. Ich könnte mir vorstellen, dass das Bild, das wir in Zukunft von La La Land haben werden, von der Freundlichkeit und Güte, mit der das Team auf den Sieg von Moonlight reagiert hat, profitieren wird. Mit “nur” sechs Oscars aus 14 Nominierungen ist das Musical sicher nicht überbewertet oder überschätzt. Der unberechtigt starke Hass auf La La Land hätte vielleicht weiter zugenommen, wenn die Academy den Film am Sonntag mit einem Preis nach dem anderen bedacht und die vielen anderen großartigen Streifen aus 2016 nicht ausgezeichnet hätte. Insgesamt kehren nun sechs der neun für den besten Film nominierten Filme mit mindestens einer Goldstatue heim: Neben La La Land gewann Moonlight insgesamt drei Oscars, Manchester by the Sea und Hacksaw Ridge jeweils zwei, und Arrival und Fences je einen. Das ist ein großartiges Ergebnis, das der Vielfalt des Kinojahres 2016 gerecht wird.

Oft argumentierten Experten, Fans und Kritiker, La La Land gewinne sowieso, weil es um Schauspieler und Hollywood geht, und solche Filme von der Academy bevorzugt würden. Dieser Eindruck hat sich nach den Siegen von Birdman (2014), Argo (2012) und The Artist (2011) in den letzten Jahren gefestigt. In allen Filmen wird Hollywood oder die Schauspielerei an sich romantisiert. Dass Moonlight in diesem Jahr gegen La La Land gewinnen konnte, tut so auch dem Ruf der Academy gut.

Die Academy hat in diesem Jahr vieles richtig gemacht. Die Show war unterhaltsam und spannend, selbst vor dem unfreiwillig epischen Finale. Die Verpflichtung von Jimmy Kimmel war eine gute Entscheidung. Am außergewöhnlichsten ist jedoch, dass ein Film wie Moonlight den wichtigsten Preis tatsächlich gewinnen kann, unabhängig von der Kontroverse.

Moonlight ist der erste Gewinner in der Königskategorie, in dem es zentral um Homosexualität geht, und auch der erste Film eines schwarzen Regisseurs und Drehbuchautors mit einer nahezu ausschließlich schwarzen Crew vor und hinter den Kameras. Nebenbei hatte Moonlight das geringste Budget aller Filme, die jemals als bester Film ausgezeichnet wurden. In Moonlight geht es nicht wie so oft um Sklaverei oder Rassismus (beliebte Hollywood-Themen, wenn es um Afroamerikaner geht), sondern um die Lebensumstände in den Ghettos von Miami und das Coming-out und Coming-of-age eines schwarzen Jungen in diesem Umfeld. Es geht um Liebe, Sorge und Nähe. Die Inszenierung ist poetisch und wunderschön anzusehen, aber auch mutig und definitiv ungewöhnlich für die Academy.

Aufgrund der Art und Weise, wie der Film gewonnen hat, wird ihn lange Zeit niemand vergessen. Die zusätzliche Aufmerksamkeit durch die Verwechslung dürfte zu gesteigertem Interesse am kleinen Film führen. Mehr Menschen werden sich den wichtigen Film ansehen. Zwar war die Erfahrung der Filmemacher in der Oscar-Nacht verfälscht, doch die Bilder der Verwechslung, die Reaktionen des Publikums und der Crews, die Umarmungen zwischen Team Moonlight und Team La La Land auf der Bühne – das sind die Bilder, die wir in den Oscar-Geschichtsbüchern und Rückblicken sehen werden.

An diese Oscar-Nacht werden sich die Zuschauer für immer erinnern. Die Filme Moonlight und La La Land sind von heute an untrennbar miteinander verbunden. Wie passend, dass beide Regisseure das “Dolby Theatre” mit einem Oscar in der Hand verlassen durften, Barry Jenkins für sein Moonlight-Drehbuch und Damien Chazelle für die Regie von La La Land.

Es ist das schönste aller möglichen Enden einer langen Award-Season: Am Ende haben die zwei besten Filme des Jahres gewonnen und gemeinsam Geschichte geschrieben.

Simon

Redakteur Moviefalcon.de, Film-, Kino-, Oscarenthusiast! Wenn nicht gerade unterwegs in einer weit entfernten Galaxis, dann sicherlich mit Mad Max auf der Fury Road oder zu Besuch im Grand Budapest Hotel.

2 Gedanken zu „Moonlight und La La Land – zwei Gewinner einer epischen Oscarnacht“

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