Simon schaut “Manchester by the Sea” (2016)

Manchester by the Sea ist DER Film für dich und deine Freunde, wenn ihr gerne im Kollektiv heult. Wem Manchester by the Sea nicht wenigstens eine Träne abringt, der hat kein Herz. Der Film ist eine Meisterklasse in Sachen Schauspielerei. Casey Affleck und Michelle Williams sind herausragend, der junge Lucas Hedges hat das Potential für eine große Karriere.

Simons Highlights

  • Casey Affleck als Lee: die beste Performance, die ich von einem männlichen Darsteller 2016 gesehen habe
  • Michelle Williams als Randi: spielt gemeinsam mit Affleck die für mich emotionalste Szene des Jahres
  • ohne Lucas Hedges als humorvollen Gegenpol würde der Film nicht funktionieren; seine Rolle als Patrick ist jedoch noch viel mehr als nur lustiges Beiwerk

Worum es geht

Lee Chandler (Casey Affleck) ist Hausmeister in Quincy, Massachusetts. Eines Tages erhält er einen Anruf und erfährt, dass sein Bruder Joe (Kyle Chandler) einen Herzinfarkt hatte. Als Lee in Manchester-by-the-Sea eintrifft, ist Joe bereits verstorben. Joes Tod war absehbar, denn er litt schon eine Weile an einer Herzkrankheit. Lee muss sich um den Nachlass seines Bruders kümmern. Er wird davon überrascht, dass sich sein Bruder Joe ihn als Vormund für Patrick (Lucas Hedges) gewünscht hat, Joes einzigen Sohn. Aus diesem und anderen Gründen muss Lee eine Zeit lang in Manchester bleiben, ein Ort, den er zu meiden versucht hatte.

Simons Kritik

Casey Affleck ist die tragende Säule für Manchester by the Sea. Auf seinen Schultern ruht die Geschichte. Lee ist eine hochkomplexe Figur, die Casey Affleck sich zu eigen macht und für die der Schauspieler in jeder Szene den passenden Zugang findet. Dabei bleibt er der Figur immer treu: Lee ist ein in sich zurückgezogener Einzelgänger. Er öffnet sich niemandem. Unberechenbar wird er, wenn er abends alleine mit ein paar Bier zu viel in einer Bar endet. Er hat sich sozial isoliert. Die Gründe dafür erfahren wir zunächst nicht. Rückblenden entschlüsseln sein Verhalten im Laufe des Films.

Zunächst ist Lee nicht gerade eine Figur, von der man glaubt, sie jemals wirklich mögen zu können. Doch je mehr Details wir über Lee und seine Vergangenheit erfahren, desto mehr verstehen wir sein Verhalten. Irgendwann bricht einem Casey Afflecks Performance schlichtweg nur noch das Herz. Dem jüngeren Bruder von Ben Affleck ist eine Oscar-Nominierung sicher und die Chancen auf einen Sieg stehen nicht schlecht. Casey Affleck war bereits einmal nominiert, nämlich für Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford (2007). Ansonsten kannte ich ihn aus Gone Baby Gone (ebenfalls 2007) in der Haupt- und aus Interstellar (2014) in einer Nebenrolle. Dass er ein so feiner Schauspieler ist, war mir nicht bewusst.

Bei Michelle Williams sah das anders aus. Ihre drei Oscar-Nominierungen sprechen für sich. Nun wird wohl eine Vierte hinzukommen. Nachdem Casey Affleck mein Herz bereits gevielteilt hatte, zertrat Michelle Williams die Scherben in noch kleinere Stücke. Dafür reichte eine einzige Szene. Williams spielt Randi, Lees Ex-Frau. Wie auch Affleck rollt sie nicht auf einen Schlag mit ihren Emotionen über uns hinweg, sondern schickt langsam und subtil eine Welle nach der anderen bis zu einem Höhepunkt, aus dem wir vor ihr fliehen. Jene kurze Szene ist wohl das emotionalste Kino, was ich 2016 sehen durfte.

Wenn eine Performance so herausragend gelingt, dann liegt das normalerweise nicht nur an den Darstellern selbst, sondern auch an Drehbuch und Regie. Kenneth Lonergan ist bei Manchester by the Sea für beides verantwortlich und hat einen wesentlichen Anteil an der Authentizität der Charaktere. Ihr Verhalten überrascht uns manchmal zunächst und lässt sich erst im Laufe des Filmes begründen. Am Ende fügt sich alles zu einem schlüssigen Ganzen. Alle Figuren im Film sind ausgeformt, selbst in kleinen Rollen wie der von Lees Bruder. Besonders hervorheben möchte ich jedoch Lucas Hedges als Lees Neffen Patrick. Nach Affleck hat Hedges die wohl größte Rolle im Film.

Patrick ist Teenager, spielt Hockey, hat eine Band und zwei Freundinnen. Er ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Lee, aber bei näherem Hinsehen finden sich auch charakterliche Parallelen. So oder so, Patrick lockert den Film an vielen Stellen auf, hat einige wunderbar lustige, aber auch ernste Szenen. Ohne Patrick würde dem Film der lebensbejahende Optimismus fehlen, den die Zuschauer brauchen, um nicht auf halber Strecke völlig deprimiert aufzugeben. Hedges spielt in den gemeinsamen Szenen mit Affleck auf Augenhöhe. Der Film bleibt aber immer Lees Geschichte treu und verteilt die emotionalen Punchs dementsprechend.

Manchester by the Sea war für mich nicht so tränenreich wie gedacht. Besonders zwei eng aufeinander folgende Schlüsselszenen in der Mitte des Films haben mich emotional nicht in dem Maße mitgerissen, wie ich es erwartet (und mir insgeheim gewünscht) hatte. Dafür gab es zwei Gründe: Erstens wurde in einer der zwei Szenen zu häufig von der Rückblende zurück in die Gegenwart geschnitten. Zweitens wurde die Musik für mich persönlich in beiden Szenen nicht subtil genug eingesetzt. Diese beiden Punkte haben mich etwas aus dem Film genommen, wodurch ein paar Tränen auf der Strecke blieben. Vielleicht habe nur ich das so wahrgenommen, denn bei meiner Sitznachbarin im Kino sah die Welt ganz anders und deutlich nasser aus.

Der Film endet, wie er enden muss. Das Fazit passt hervorragend zur Geschichte. Kenneth Lonergan hat ein richtig gutes Drehbuch geschrieben, das von Casey Affleck, Michelle Williams und Lucas Hedges mit Leben gefüllt wurde. Wer auf richtig gute Schauspielerei steht, der kommt an Manchester by the Sea nicht vorbei. Der Film ist aber sehr traurig und man kann ihn vermutlich nicht wieder und wieder schauen. Nichtsdestotrotz, er vermittelt eine Nachricht über die Realität bestimmter Ereignisse im Leben, die ich in dieser Form noch nicht in einem Film behandelt gesehen habe.

6 von 7 Falken

Simon

Redakteur Moviefalcon.de, Film-, Kino-, Oscarenthusiast! Wenn nicht gerade unterwegs in einer weit entfernten Galaxis, dann sicherlich mit Mad Max auf der Fury Road oder zu Besuch im Grand Budapest Hotel.

2 Gedanken zu „Simon schaut “Manchester by the Sea” (2016)“

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