Simon schaut “Toni Erdmann” (2016)

Manche Dinge muss man sich erstmal trauen! In Toni Erdmann bringt Regisseurin Maren Ade Situationen auf die Leinwand, die meine Fassung ausgehebelt und meinen schlimmsten Kino-Lachanfall seit Jahren verursacht haben. Der Film findet die perfekte Balance aus Komödie und Drama. Vielschichtiger können Figuren nicht sein, besser kann man Charakterstudien nicht inszenieren. Hut – und Perücke – ab!

Simons Highlights

  • folgende komisch-geniale Szenen, die ich vermutlich niemals vergessen werde: Toni Erdmanns erster Auftritt, Whitney Schnuck, das große Finale
  • die perfekten Hauptdarsteller Sandra Hüller und Peter Simonischeck als Ines und Winfried Conradi

Worum es geht

Pensionär Winfried und seine Tochter Ines haben sich wenig zu sagen. Die junge Unternehmensberaterin hat sich ganz ihrem Job in Rumänien verschrieben und möchte die Karriereleiter erklimmen, während Winfried daheim in Deutschland seinen kränkelnden Hund pflegt und am liebsten seine Mitmenschen auf den Arm nimmt. Als Winfrieds Hund schließlich stirbt, besucht er seine Tochter unangekündigt. Zwei Welten prallen aufeinander. Es kommt zum Eklat. Doch anstatt abzureisen verkleidet sich Winfried als sein Alter Ego “Toni Erdmann” und stellt das Leben von Ines auf den Kopf.

Simons Kritik

Ich hätte nicht gedacht, dass ich nur ein Jahr nach Victoria (2015) einen deutschen Film im Kino sehen werde, der mir noch besser gefällt. Aber es ist geschehen. Toni Erdmann bietet mehr als eine Aneinanderreihung von Scherzen, sondern zwei fesselnde Charakterstudien. Der Film von Regisseurin und Drehbuchautorin Maren Ade sprach mich unerwartet auf vielen Ebenen an.

Die Schlagzeilen nach Toni Erdmanns Premiere in Cannes erweckten bei mir den Eindruck, als sei der Film ein einziges Gag-Feuerwerk. Mehrmals hörte ich, Toni Erdmann beweise, dass Deutsche Humor haben. Das stimmt auch, Toni Erdmann ist in vielen Szenen zum Umfallen komisch, verrückt und lustig. Doch diese Umschreibung wird Ades Film nicht ganz gerecht, denn was den Film so einzigartig macht ist die Sorgfalt und das Timing, mit der sich dramatische und komödiantische Einlagen abwechseln. Manchmal dauert es nur Sekunden, bis eine Szene umschlägt. Und manchmal reiht sich eine komische Begegnung an die andere – und man will mehr und mehr. Der erste Auftritt von Toni Erdmann hat mich fertig gemacht! Selten habe ich so sehr im Kino gelacht, sicher noch nie in einem deutschen Film.

Im Zentrum steht natürlich die Interaktion zwischen Vater und Tochter. Wie schafft es Maren Ade, dass die Charaktere so frisch wirken, so ehrlich und echt? Ich habe eine Theorie: Uns fehlen ab und zu Informationen, denn so nah wir auch an den Figuren sind, in ihre Köpfe hineinschauen können wir nicht. Mehrmals überraschen uns Ines und Toni/Winfried mit dem, was sie tun. Das Publikum wird damit konfrontiert und muss selbst ein wenig mitanalysieren. Es gelingt der Regisseurin, im Laufe der jeweiligen Szene die Motivation hinter der Handlung der Figur zu beleuchten. Wir werden für einen kurzen Moment überrumpelt und erleben im Laufe der Szene einen Aha-Moment. Mich hat das in den Film hineingesogen, ich war von Anfang bis Ende dabei. Das Publikum ab und zu etwas zu überfordern ist mutig von Ade, denn das kann auch nach hinten losgehen. Wenn wir nicht entschlüsseln können, was dort vor unseren Augen geschieht, distanzieren wir uns von den Charakteren. In unberechenbare, willkürlich handelnde Figuren können wir uns nicht hineinfühlen. Ade und ihre zwei Hauptdarsteller Hüller und Simonischeck finden jedoch zu jeder Szene den passenden Schlüssel.

In Kombination mit der umschlagenden Stimmung, dem Wechselspiel aus dramatischen und komödiantischen Passagen, wird uns viel Abwechslung geboten. Der Film ist unterhaltsam, geht ans Herz, und fühlt sich nicht wie ein 2,5 Stunden-Streifen an – und das bei einem deutschen, komödiantischen Familiendrama.

Oben habe ich bereits den ersten Auftritt von Toni Erdmann erwähnt, doch es gibt noch mindestens zwei weitere Szenen im Film, die ich vermutlich nie vergessen werde. Ich will nicht verraten, worum es geht, aber Du wirst genau wissen, welche ich meine. Beide Szenen sind mutig und überschreiten die eine oder andere Grenze, doch Regie und Darsteller fangen das Publikum direkt wieder ein, nehmen uns in den Arm und reißen uns komisch-genial mit.

Maren Ade verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz. Die zwei Figuren sind vollständig ausgeformt. Die Umgebung von Ines und Winfried Conradi liefert unendlich viele Details über die beiden. Am Rande der Vater-Tochter-Dynamik begegnet uns unerwartet viel Wahrheit, Wahrheit über die Ausbeutung von Arbeitskräften in Osteuropa, Wahrheit über den Kampf von Frauen in Führungspositionen um ihren Platz und die Anerkennung ihrer männlichen Kollegen. Ade kreiert eine Welt, die uns ziemlich bekannt vorkommt.

Was bleibt zu sagen? Ich drücke Maren Ade bei den Oscars 2017 die Daumen, denn Toni Erdmann wird der deutsche Beitrag im Rennen um die Trophäe für den Best Foreign Language Film. Ich kann Toni Erdmann nur wärmstens empfehlen, wenn Du auf intelligentes Kino stehst, dich gerne überraschen lässt und dem einen oder anderen Lachanfall nicht abgeneigt bist. Der Film hat mich angeregt, über meine eigene Prioritätensetzung nachzudenken. Danke, Toni.

7 von 7 Falken

Off-Topic: Ich habe Toni Erdmann in einem schwedischen Kino gesehen – in deutscher Sprache mit schwedischem Untertitel. An einigen (wenigen) Stellen lachten nur meine österreichische Begleitung und ich, an anderen wiederum zunächst die (offensichtlich schnell lesenden) Schwedinnen und Schweden, wir erst einen Moment später. Eine interessante Erfahrung! Insgesamt hat der Film auch für fremdsprachiges Publikum hervorragend funktioniert, so unsere Beobachtung.

Simon

Redakteur Moviefalcon.de, Film-, Kino-, Oscarenthusiast! Wenn nicht gerade unterwegs in einer weit entfernten Galaxis, dann sicherlich mit Mad Max auf der Fury Road oder zu Besuch im Grand Budapest Hotel.

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