Simon schaut “Tangerine” (2015)

Eine Dramatic Comedy über Transgender-Prostitution in Los Angeles, die gleichermaßen zum Nachdenken anregt und mit schwarzem Humor unterhält. Der Film öffnet ein Fenster in eine Realität, von der wenige wissen, dass sie existiert. Die Authentizität der Darstellerinnen trägt den Film.

Simons Highlights

  • Mya Taylor als Alexandra
  • der Mut zum iPhone
  • weder belehrt noch verurteilt: Transphobie und Prostitution werden von Regie und Drehbuch erfrischend beleuchtet

Worum es geht

Heiligabend in Los Angeles. Nach einer einmonatigen Haftstrafe im Gefängnis ist Transgender-Prostituierte Sin-Dee Rella “back in business”. Sie trifft ihre Freundin Alexandra, ebenfalls Transgender-Sexarbeiterin, in einem Donutladen. Alexandra rutscht heraus, dass Sin-Dees Freund (und Zuhälter) Chester Sin-Dee während ihrer Abwesenheit mit einer anderen Frau betrogen hat. Stinksauer und aufgewühlt macht sich Sin-Dee auf die Suche nach den beiden. Alexandra versucht, ihre Freundin zu beruhigen. Nur kein Drama!

Simons Kritik

Wir verlassen die sauberen Ecken von Los Angeles. Nur wenige Blocks weiter arbeiten die zwei Hauptcharakterinnen des Films, Sin-Dee (Kitana Kiki Rodriguez) und Alexandra (Mya Taylor) – als Prostituierte. Mit ihrer Performance zogen mich die beiden Newcomerinnen direkt in ihren Bann. Sie sind so authentisch und unkonventionell in Tangerine, vielleicht auch, weil beide Transgender-Schauspielerinnen selbst Sexarbeiterinnen waren und wissen, wie es abläuft. Tangerine öffnet ein Fenster in eine Realität, vor der viele die Augen verschließen. Und die man weit ins Abseits schiebt, wenn man an Hollywoods Glanz und Glamour denkt.

Warum sind unsere zwei Figuren am Straßenrand gelandet? Offensichtliche Gründe, zum Beispiel soziale Ausgrenzung und Transphobie, sind zwar Themen des Films, stehen aber nicht im Mittelpunkt. Unsere Hauptfiguren sind Transgender, so what? Reduziert werden sie darauf nicht. Die Geschichte, die erzählt wird, handelt vor allem von der Freundschaft zwischen den zwei Charakteren. Ich brauchte nicht lange, um Sin-Dee und Alexandra in mein Herz zu schließen. Vor allem Mya Taylor liefert eine sehr feine, nuancierte Performance ab, für die sie den Independent Spirit Award als beste Nebendarstellerin gewinnen konnte – übrigens war sie damit die erste Transgender-Frau, der dies gelang. Einige Szenen machen traurig und betroffen. Hier strahlt Taylor besonders.

Im Kontrast dazu musste ich an einigen Stellen schwer lachen, zum Beispiel wenn Sin-Dee ausrastet, Alexandra sich mit einem Freier prügelt, oder beide die Diven raushängen lassen. Taylor, Rodriguez und auch die Drehbuchautoren Sean Baker und Chris Bergoch greifen auf ein paar gängige Klischees zurück und bauen sie liebevoll in das Profil der Figuren ein. Ich kaufe ihnen jeden Charakterzug ab. Auch James Ransone als Chester und Mickey O’Hagan als Dinah haben mir Spaß gemacht. Das Ghetto-Slang-Drehbuch überrascht uns (und vermutlich Chris Brown) mit aktuellen Bezügen.

Regisseur Sean Baker hat großartige Arbeit mit den Laiendarstellern geleistet. Sie sind ein wesentliches Standbein für den realistischen Raum, den er inszeniert. Ein weiteres ist die Kamera. Tangerine wurde auf drei iPhone 5s Smartphones gedreht. Skeptisch? “This movie ain’t gonna be shit” dachte auch Taylor, wie sie während ihrer Dankesrede bei den Independent Spirit Awards erzählte. Es ist unglaublich, was Baker und sein Team hier angestellt haben. Der Film hat seinen ganz eigenen, speziellen Look. Ich liebe die Farben und viele der kunstvollen Einstellungen. Irgendwie passt hier alles zusammen: Während in den großen Hollywood-Studios Fantasiewelten entstehen, eingefangen mit den besten Kameras und Objektiven, zeigt Tangerine die Hinterhöfe der Traumfabrik, das echte Leben einer Randgruppe durch Kameras, die wir heute alle überall zur Verfügung haben.

Die Handlung schließt rund, dennoch funktioniert nicht jede einzelne Szene für mich. Einige kleinere Nebenrollen haben mich weniger überzeugt. (Wer hätte gedacht, dass die Schwiegermutter zur überzogensten Figur des Films werden würde?) Man sollte im Hinterkopf behalten, dass Tangerine ein äußerst geringes Produktionsbudget zur Verfügung hatte. Der Film ist ein Paradebeispiel dafür, dass man auch mit geringen Mitteln wunderbare Filme drehen kann. Schade, dass es mehr braucht als einen guten Film, um ins öffentliche Bewusstsein vorzudringen. Da helfen auch 97% bei Rotten Tomatoes wenig.

Tangerine ist eine Indie-Perle, die ich weiterempfehlen kann, wenn Du offen für Vielfalt bist und emotionale, künstlerische Kritikerlieblinge wertschätzt. Trotz der traurigen und ernsten Noten bin ich mit einem positiven Gefühl aus dem Film gegangen. Es steckt so viel Wahrheit in vielen Zeilen, in vielen Szenen. Wahrheit über Freundschaft und alle Facetten, die dazu gehören.

5.5 von 7 Falken

Simon

Redakteur Moviefalcon.de, Film-, Kino-, Oscarenthusiast! Wenn nicht gerade unterwegs in einer weit entfernten Galaxis, dann sicherlich mit Mad Max auf der Fury Road oder zu Besuch im Grand Budapest Hotel.

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