Ein offenes Rennen

In der Oscar-Nacht geht es im Cockpit des Moviefalcon richtig rund. Die letzten zwei Jahre haben Vera, Philipp und ich die Show zusammen geschaut, eine Tradition, die wir dieses Jahr aus verschiedenen Gründen leider nicht aufrecht erhalten können. Neben der Preisverleihung an sich schauten wir zuvor (sozusagen zur Einstimmung) einen der Oscar-nominierten Filme, verfolgten die Berichterstattung vom roten Teppich, und natürlich tippten wir die Sieger. Ich habe es an anderer Stelle bereits angedeutet: Die letzten zwei Jahre habe ich zwar gut getippt, jedoch nicht den besten Film getroffen. Statt mit 12 Years a Slave ging ich mit dem siebenfachen Gewinner Gravity, statt auf Birdman setzte ich auf Boyhood. So wie es aussieht wird es dieses Jahr noch deutlich schwerer: In den letzten Jahren hatten wir zu dieser Zeit bereits nur noch zwei wirklich starke Kandidaten. In diesem Jahr sind es mindestens vier.

In meinem Artikel Wann wird es ein “Best Picture”? habe ich diskutiert, welche Nominierungen in der Vergangenheit als “Schlüssel” zum Sieg des wichtigsten aller Oscars fungierten. Ein weiterer Indikator sind bereits gewonnene Filmpreise. Hier muss man mit einbeziehen, inwiefern die jeweilige “Jury” des Filmpreises mit “der Academy” übereinstimmt, und ob die Auszeichnung in den Medien diskutiert wird. Öffentliche Diskussion könnte dazu führen, dass Mitglieder der Academy ihre Entscheidungen nochmal überdenken.

Ein offenes Rennen bei den Nominierungen

In den Kategorien “Bester Schnitt” und “Beste Regie” sind Spotlight, The Big Short, Mad Max: Fury Road und The Revenant nominiert. Spotlight und The Big Short sind gleichzeitig auch für ihre Drehbücher nominiert und Favoriten in den jeweiligen Kategorien (Spotlight für das Originaldrehbuch, The Big Short für die Adaption). Ihr erinnert euch: Seit Titanic hat kein Film mehr ohne Drehbuchnominierung gewonnen. Warum könnte es mit The Revanant oder Mad Max: Fury Road dieses Mal trotzdem klappen? Beide haben unheimlich viele Nominierungen eingesackt, zwölf bzw. zehn. Das bedeutet, dass die beiden Blockbuster aus ganz verschiedenen Branchen der Academy Anerkennung erfahren. Und in den letzten zehn Jahren hatten die Sieger im Durchschnitt 8,5 Nominierungen!

Spotlight und The Big Short haben ihrerseits nur sechs bzw. fünf Nominierungen. Zu Gunsten der beiden kleineren Anwärter könnte man argumentieren, dass der Schauspielzweig der Academy die größte Untergruppe ausmacht: Spotlight und The Big Short sind Ensemble-Filme und könnten in der Gruppe der Schauspielerinnen und Schauspieler besonders gut ankommen. Hier darf man jedoch nicht The Revenant vergessen: Zwar gibt es nur wenige wirklich wichtige Rollen, dafür wurden jedoch gleich zwei der Darsteller nominiert.

Im Jahr 2015 wurden Boyhood und Birdman als Top-Favoriten gehandelt. Birdman hatte das bekanntere Ensemble und mit neun Nominierungen gleichzeitig Rückendeckung aus vielen verschiedenen Branchen. Nur sechs Nominierungen entfielen hingegen auf Boyhood. In dem kleinen Indieprojekt spielten weniger bekannte Darstellerinnen und Darsteller. Ein Jahr zuvor, bei den 86. Academy Awards, beherrschte Gravity zwar die technischen Kategorien, es fehlten aber Drehbuch und Ensemble. Das Drama 12 Years a Slave füllte diese Lücken, außerdem behandelt der Film ein Thema mit historischer Relevanz. Die Academy liebt Historiendramen, was wohl wiederum ein Punkt für Spotlight und The Big Short ist.

Ein offenes Rennen um andere Auszeichnungen

Warum war Boyhood denn trotz all der Punkte, die für Birdman sprachen, ein großer Favorit? Ganz einfach: Boyhood hatte zuvor unheimlich viele Auszeichnungen gewonnen. Im Awards-Leaderboard von Rotten Tomatoes für die Filme des Jahres 2014 sind für Boyhood und für Birdman insgesamt 49 Auszeichnungen gelistet. Gravity kam ein Jahr zuvor auf insgesamt 43 Auszeichnungen, 12 Years a Slave auf 36. Wie sieht das in diesem Jahr aus? Hier hat (Stand: 24. Januar 2016) Mad Max: Fury Road die Nase mit 34 Siegen vorne, Spotlight kommt auf 27 Gewinne, The Revenant auf 11 und The Big Short auf 9. Natürlich kommt es auch darauf an, welche Preise gewonnen werden, und wer die Preise verleiht. Je größer die Übereinstimmungen in den Jurys, desto eher sollten auch Übereinstimmungen in den Preisträgern zu finden sein.

Die Golden Globes werden von nur 80 bis 100 Auslandsjournalisten in Hollywood verliehen, von der Hollywood Foreign Press Association. Die Jury sieht hier also ganz anders aus als bei den Oscars: In der Academy wählen über 6000 Filmschaffende. Außerdem gibt es nicht den einen besten Film, sondern zwei Golden Globes: Einen für die beste Komödie, einen für das beste Drama. Wie häufig gab es in den letzten zehn Jahren Übereinstimmungen? In 2013 und 2014 wurden sowohl Argo als auch 12 Years a Slave mit dem Globe (bestes Drama) und anschließend mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet. Auch 2012 gewann The Artist, allerdings den Globe für die beste Komödie. Slumdog Millionaire gewann 2009 ebenfalls Globe und Oscar. In den übrigen sechs Jahren gingen die Globes in beiden Kategorien (bestes Drama und beste Komödie) jeweils an Filme, die später nicht den Oscar für den besten Film einsackten. Dass The Revenant bei den Globes gegen Mad Max und Spotlight das beste Drama gewinnen und The Big Short gegen The Martian die beste Komödie verloren hat, das sagt also noch nicht allzu viel aus.

Die Golden Globes werden jedes Jahr kontrovers diskutiert und stehen deutlich eher im Rampenlicht der Öffentlichkeit als einige der aussagekräftigeren Filmpreise. Und Presse schadet nie. The Revenant hat durch die Siege bei den Globes in Kombination mit den vielen Oscar-Nominierungen Eindruck hinterlassen.

Dennoch: Spannender wurde es bei den Critics’ Choice Awards. Seit The Departed in 2007 hat die Kritikervereinigung nur zweimal einen anderen Film als besten Film ausgezeichnet als die Academy, nämlich 2011 und 2015. Die Kritiker gingen jeweils mit The Social Network und Boyhood, die Academy mit The King’s Speech und Birdman. In diesem Jahr durfte sich Spotlight über diesen wichtigen Preis freuen. Großer Gewinner der Critics’ Choice Awards war jedoch Mad Max: Fury Road mit insgesamt neun Siegen, hauptsächlich in technischen Kategorien und der Action-Sparte.

Besonders wichtig sind die Auszeichnungen der Gilden, denn hier überschneiden sich die jeweiligen Jurys. Viele Mitglieder der Academy sind in einer der jeweiligen Filmgilden, zum Beispiel der Screen Actors Guild (SAG; die Gilde der Schauspielerinnen und Schauspieler), der Producers Guild of America (PGA; die Gilde der Produzenten) oder der Directors Guild of America (DGA; die Gilde der Regisseurinnen und Regisseure). Die SAG und die DGA habe ihre Preise noch nicht verliehen (30. Januar bzw. 6. Februar). Aber wir interessieren uns momentan ja auch für den besten Film, und hier hatte die PGA in den letzten zehn Jahren eine sehr gute Quote: In acht Fällen wurden die Produzierenden des zukünftigen Oscargewinners ausgezeichnet. Im Jahr 2013 gab es eine Besonderheit: Gravity und 12 Years a Slave haben sich die Auszeichnung geteilt, vielleicht ein Indikator dafür, wie eng das Rennen war. Und in diesem Jahr? Überraschenderweise haben die Produzenten von The Big Short die Auszeichnung entgegen nehmen dürfen!

Wir haben es mit einem wirklich offenen Rennen zu tun. Vieles ist möglich. Spotlight und The Big Short könnten sich gegenseitig ausstechen, ebenso auch The Revenant und Mad Max: Fury Road. Wer weiß, vielleicht erleben wir bedingt durch dieses weite Feld eine ganz andere Überraschung: Die Stimmen verteilen sich und plötzlich hat ein Film wie Room Chancen, der auch mit Nominierungen für Drehbuch und Regie aufwartet.

Es bleibt spannend, vor allem spannender als in den letzten Jahren! Wer wohl dieses Jahr richtig tippt?

Hier ein kurzer Überblick über die besprochenen Punkte:

Schlüsselnominierungen Regie und Schnitt – Mad Max: Fury Road, The Revenant, Spotlight und The Big Short

Nominierungen für das Drehbuch – Spotlight und The Big Short

Ensemble-Filme – Spotlight, The Big Short, evtl. auch The Revenant

Anzahl Oscar-Nominierungen – Mad Max: Fury Road und The Revenant

Unterstützung aus den technischen Zweigen der Academy – Mad Max: Fury Road und The Revenant

Historische Relevanz – Spotlight und The Big Short

Die meisten Auszeichnungen bis dato (Stand: 24. Januar 2016) – Mad Max: Fury Road

Sieg bei den Critics’ Choice Awards – Spotlight

Sieg bei der Producers Guild of America (PGA) – The Big Short

Sieg bei den Golden Globes – The Revenant (weniger Übereinstimmung als andere Auszeichnungen)

 

 

Simon

Redakteur Moviefalcon.de, Film-, Kino-, Oscarenthusiast! Wenn nicht gerade unterwegs in einer weit entfernten Galaxis, dann sicherlich mit Mad Max auf der Fury Road oder zu Besuch im Grand Budapest Hotel.

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