Mutiges Finale beim Europäischen Filmfestival in Umeå

Sinnlich wirft Andrea ihren Kopf zurück. Ihre dunkel betonten Lippen sind spitz, die Augen geschlossen. Sie drückt sich in die weißen Laken und genießt. Ihre schüchterne, ängstliche Art, mit der sie den Fremden beäugte, als dieser vor dem Regen Schutz suchte, habe ich ihr nicht abgekauft. Sie hat schelmische, neugierige Augen. Es dauert nicht lange, bis Andrea der Wirkung von Erotikon verfällt – und der Schürzenjäger George sein offensichtliches Ziel erreicht. Kopfschütteln über die verzweifelte Naivität der jungen Frau im Publikum. Sie will bloß leben und lieben.

Dann war ich mir doch unsicher. Man sieht wenig. Hände umfassen sich. Ist es nur eine Traumsequenz? Nein, sie wachen nebeneinander auf. Was heute als zurückhaltender Sexszenen-Standard im Vorabendprogramm gelten würde, das war 1929 wohl ein mittelschwerer Skandal. Nichtsdestotrotz: Es ist gut gemacht. Und mutig.

Mutig ist das gesamte Programm des Filmfestivals. Wir befinden uns im Norden Schwedens. Umeå ist die größte Stadt Norrlands, dank einer großen Universität eine sehr junge, pulsierende, schnell wachsende Stadt. Und sie ist ein kulturelles Zentrum Schwedens, 2014 sogar europäische Kulturhauptstadt. Die logische Konsequenz ist ein kleines Filmfestival, das „Umeå Europeiska Filmfestival“, vom 24. bis zum 29. November 2015. Das Wettbewerbsprogramm beschäftigte sich mit regionalen Filmen, „Films from Västerbotten“. Der Hauptpreis geht an den Kurzfilm Mommy von Milad Alami, in dem es um eine sehr junge Mutter geht, die ihr Teenagerleben mit dem Mutterdasein zu vereinbaren versucht.

Es werden auch Festivalfilme der laufenden Saison gezeigt: Zum Beispiel Son of Saul, Ungarns aussichtsreicher Beitrag für das Rennen um den Foreign Language Film Oscar. Der Film hat mehrere Hauptpreise beim Internationalen Filmfestival in Cannes gewinnen können. Auch 45 Years mit Charlotte Rampling und Tom Courtenay in den Hautrollen steht im Programm, und Mia Madre, ein französisch-italienisches Drama über eine Regisseurin, das in Cannes und Toronto lief.

Sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle Freiheit war ein Leitthema des Filmfestivals. Es gab ein Sing-along zum Kultfilm Rocky Horror Picture Show, der dieses Jahr seinen 40. Geburtstag feiert und 1975 wohl ebenso mutig war wie Erotikon 1929. Außerdem wurden unter dem Titel Queer Experimentalism zum ersten Mal Werke der griechisch-französischen Künstlerinnen Maria Klonaris und Katerina Thomadaki der schwedischen Öffentlichkeit vorgestellt.

Zum Abschluss nun Gustav Machatýs Erotikon von 1929, als „Stummfilmkonzert“. Der Film ist aus der Tschechoslowakei, hatte seine Uraufführung in Prag am 27. Februar 1929. Präsentiert wird eine restaurierte Fassung von 1993. Begleitet von Akkordeon, Schlagzeug, Klavier und Keyboard folgte ich Andrea durch eine Nacht, die ihr Leben veränderte.

Andrea wird schwanger, leidet unter schwerem Liebeskummer, verliert ihr Kind. Zurück zu ihrem sich für sie schämenden Vater kann oder will sie nicht. Sie wird beinahe vergewaltigt und kommt durch eine Verkettung von Umständen mit Jan zusammen, ihrem zukünftigen Ehemann. Doch es wird nicht über die Vergangenheit gesprochen. Ein Zufall lässt sie erneut auf George treffen, die Leidenschaft flammt in kurzen Augenblicken und Berührungen wieder auf. Es braucht eine Weile, bis Andrea versteht, dass man manchmal die Vergangenheit hinter sich lassen muss, um zu leben.

Ita Rina als Andrea und Olaf Fjord als George sind Erotika. In jeder Szene, in der sie aufeinandertreffen, spürt man die Spannungen. Es wird augenblicklich wärmer in den schwarzweißen Aufnahmen. Sie schweigen, aber ihre Augen sprechen. Die Musik des kleinen Liveorchesters ist melancholisch-dramatisch. Junge Künstlerinnen und Künstler waren eingeladen, zu dem Film zu komponieren und zu improvisieren.

Ich habe bisher nicht viele Stummfilme gesehen. Wenige Klassiker, einige Ausschnitte, dann The Artist vor ein paar Jahren. Ich mag sie mehr und mehr. Sie lassen Interpretationsspielraum. Die aus heutiger Perspektive übertriebenen Gesichtsausdrücke heben Schauspiel auf ein ungewohntes Level, fügen eine zusätzliche, unterhaltsame Note hinzu. Und Stummfilme fordern Konzentration auf das Bild für das wir das Kino so lieben. Sie sind selten, Filmfestivals geben den Raum für solche Veranstaltungen. Die Livemusik und der Theatersaal, in dem die Aufführung stattfand, machten Erotikon für mich zu einem abwechslungsreichen Event.

Simon

Redakteur Moviefalcon.de, Film-, Kino-, Oscarenthusiast! Wenn nicht gerade unterwegs in einer weit entfernten Galaxis, dann sicherlich mit Mad Max auf der Fury Road oder zu Besuch im Grand Budapest Hotel.

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